Martin Klein, Votum: Retail Investment Strategie vor dem Abschluss?

Martin Klein: Retail Investment Strategie vor dem Abschluss?
Während alle die Geburtswehen der neuen schwarz-roten Koalition verfolgten, ist in der EU das vor drei Jahren begonnene Gesetzgebungsverfahren zur Kleinanlegerstrategie auf die Zielgeraden gebogen. Es sind Monate, die die Finanzmarktregulierung für Berater für viele Jahre entscheidend prägen. Gastbeitrag von Martin Klein, Votum
Die erste große Aufregung aus dem Frühjahr 2023 ist inzwischen abgeklungen. Die frühere Finanzkommissarin Mairead McGuinness beabsichtigte, ein branchenübergreifendes Provisionsverbot für die Vermittlung von Kapitalanlagen durchzusetzen. Der Widerstand aus den großen europäischen Kernländern Spanien, Frankreich und Deutschland verhinderte dies. Christian Linder ließ als Finanzminister die formal gebotene Abstimmung mit Wirtschaftsminister Robert Habeck hintenanstehen und wandte sich in einem offenen Brief an die Kommissarin gegen die durchgestochenen Pläne.Der Kommissionsvorschlag der Retail Investment Strategie (RIS) vom 24. Mai 2023 beschränkte ein mögliches Provisionsverbot sodann nur noch auf die Vermittler, die für sich das Attribut „unabhängig“ werbend nutzen wollen. Ein Ansinnen was bei den Versicherungsmaklern zurecht weiterhin auf Ablehnung stößt. Eingriffe in die Vergütungsgestaltung sind jedoch nur ein Bestandteil der Pläne der Kommission.
RIS: Der Regulierungs-Omnibus rollt
Die RIS ist tatsächlich für alle Finanzanlagen- und Versicherungsvermittler das Vorhaben, welches ihr berufliches regulatorisches Umfeld in den nächsten Jahren entscheidend prägen kann. Hier werden Weichen gestellt, die die Grundlage für sämtliche Themenbereiche in den nächsten fünf bis zehn Jahren maßgeblich beeinflussen.
Sie ist keine einzelne Richtlinie, vielmehr handelt sich um eines der in der EU so beliebt gewordenen Omnibusverfahren. Dies beschreibt Maßnahmen, mit der gleichzeitig die Änderung und Aktualisierung von mehreren bestehenden Richtlinien und Verordnungen eingeführt wird. Bei der RIS sind dies:
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die für Finanzanlagenvermittler maßgebliche Finanzmarktrichtlinie MiFID II
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die für Versicherungsvermittler maßgebliche Versicherungsvertriebsrichtlinie IDD
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die Investmentfondsrichtlinie UCITS
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die Richtlinie für Alternative Investmentfonds AIFMD und
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die Verordnung zu vorvertraglichen Informationen von verpackten Anlageprodukten PRIIPs.
Die ausgeschiedene Finanzmarktkommissarin McGuinness, aus deren Feder dieser Doppeldeckerbus mit Anhängern stammt, bezeichnete es selbst als den umfassendsten Eingriff in die Finanzmarktregulierung seit den letzten 20 Jahren.
Ein außergewöhnlicher Trilog
Jetzt kommt also der gesetzgeberische Showdown, der in Europa „Trilog“ heißt. Alle drei Gesetzgeber – Kommission, Parlament und Rat –, die sich auf einen Kompromiss verständigen müssen, haben ihre jeweilige Position vorgelegt. Würde das übliche EU-Procedere folgen, hätte man die Formulierungen im Detail miteinander abgeglichen und wäre zeitnah bei einem Ergebnis.
Diesmal ist es jedoch alles anders. Bereits vor den EU-Wahlen im Juni 2024 zeichnete sich vor dem Hintergrund des sich verschärfenden globalen Wettbewerbs ab, dass die EU, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu behalten oder wieder zurückzugewinnen, auch in ihrer Regulatorik eines klaren Richtungswechsels bedarf. Bürokratieabbau steht ganz vorn auf der Agenda. Mit Valdis Dombrovskis wurde sogar ein EU-Kommissar für „Umsetzung und Vereinfachung“ berufen. Seine Hauptaufgabe wird es sein, das bestehende Regelwerk gründlich zu überprüfen und überflüssige oder komplizierte Vorschriften zu vereinfachen.
Der erste Schritt zu Abbau ist die Verhinderung neuer, unnötiger Bürokratie. Dieses Mindset prägte die Trilog-Verhandlungen zur RIS am 18. März 2025. Die Vertreter von Parlament und Rat forderten die Kommission unmissverständlich auf, das bürokratische Monster zu zähmen und konsequent zu vereinfachen. Die Trilog-Verhandlungen wurden unterbrochen und der Kommission wurde die Aufgabe zugewiesen, binnen sechs Wochen einen Entwurf vorzulegen, der diesem neuen Wind der Vereinfachung folgt. Für langjährige parlamentarische Insider ein Vorgang, den es so noch nicht gab.
Neue Strategie statt Vereinfachung
Wirklich anfreunden mit ihrer Vereinfachungs-Aufgabe kann sich die Europäische Kommission offenbar nicht. Unmittelbar nach der Unterbrechung der Triologverhandlung stellte die neue Finanzkommissarin Maria Luís Albuquerque am 19. März 2025 ihr Strategiepapier zur Savings and Investments Union – SIU vor, welche nunmehr im EU-Sprech die Capital Markets Union CMU ablöst. Ziel ist weiterhin, einen einheitlichen europäischen Finanzmarkt zu schaffen, um das derzeit noch vielfach auf Sparkonten ruhende Kapital der Privatanleger in den Anlagemarkt umzuleiten und hierdurch auch die anstehenden Finanzierungsvorhaben der EU zu ermöglichen. Im Fokus steht hierbei insbesondere der Verbriefungssektor.
Das Strategiepapier wurde von der Kommissarin, nach dem im Trilog erlebten Widerstand, trotzig dazu genutzt, die RIS und den Ausbau des Schutzes der Kleinanleger als einen unerlässlichen Baustein der SIU rühmen. Sie kündigte an, man würde „weiterhin darauf achten, dass das Endergebnis ehrgeizig ist und die Anleger schützt“. Hinter den Kulissen soll die EU-Kommission damit gedroht haben, dass sie ihren Vorschlag vollständig zurückzuzieht, wenn die anderen Trilog-Partner auf eine zu starke Reduzierung der beabsichtigten Maßnahmen bestehen.
Ob eine Verständigung im Trilog möglich sein wird, bleibt abzuwarten. Ein Datum für die Fortsetzung der Verhandlungen wurde bewusst nicht festgelegt, da Parlament und Rat erst gründlich den Vereinfachungs-Vorschlag der Kommission prüfen wollen.
Fundamentale Fehlannahmen
Das Problem ist, dass bereits der Ausgangsansatz der EU-Kommission verfehlt ist. Sie vermutet, dass die im Vergleich zu den USA niedrigen Investitionsquoten der Europäischen Bürger am Finanzmarkt auf fehlendem Vertrauen beruhen und glaubt, dass die Lösung in der Erweiterung von Berichtspflichten der Produktanbieter, Prüfungspflichten der Berater und Lenkungseingriffen der Aufsicht bestehen kann. Keine dieser Maßnahmen ist jedoch tatsächlich geeignet, mehr Anleger in den Kapitalmarkt zu bringen. Auch eine noch so lenkende Aufsicht kann den Anlegern kein Finanzwissen vermitteln und bei den Sparbuchsparern Zuversicht und Glauben an die wirtschaftliche Dynamik der Finanzmärkte stärken.
Die EU verfügt seit Jahren über ein den USA zumindest gleichwertigen, wenn nicht deutlich ausgeprägteren Verbraucherschutz. Die Regelungsinstrumente liegen seit langem vor. Dennoch entspricht die durchschnittliche Investitionsquote der europäischen Bevölkerung nur einem Drittel derer der USA. Woher nimmt die EU-Kommission die Erkenntnis, dass weiterer bürokratischer Verbraucherschutz nunmehr zu einer Trendwende führt? Hier gilt Einsteins denkwürdige Einsicht, dass immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, die Definition von Wahnsinn ist. Parlament und Rat tun gut daran, sich diesem Bürokratiewahnsinn entgegenzustellen.
Marktwirtschaft stärken, nicht fesseln
Der Votum Verband erwartet, dass die Diskussion um ein Provisionsverbot tatsächlich endgültig beendet ist. Es muss jedoch grundsätzlich deutlich werden, dass jegliche Markteingriffe der Aufsichten, die über eine Eliminierung von Ausreißern und schwarzen Schafen hinausgeht, unterbleiben. Die EU muss die Marktwirtschaft wiederbeleben, anstatt ihr durch aufsichtsrechtliche Maßnahmen Fesseln anzulegen.
Es ist bezeichnend, dass die von der EU-Kommission als Grundlage der Kleinanlegerstrategie herangezogene Marktstudie selbst feststellt, dass sich in England und den Niederlanden „der Zugang zur Beratung tatsächlich verschlechtert hat. Sowohl in den Niederlanden als auch im Vereinigten Königreich hat sich der Markt in Richtung ‚Execution-only‘-Produkte entwickelt.“
Eingriffe in die Vergütungssystematiken, bis hin zum Provisionsverbot, führen daher nicht zu einer Verbesserung des Beratungsangebots, sondern zu einer Beschränkung des Zugangs zu Beratungsleistungen ausschließlich für Besserverdienende.
Wenn man, wie die EU-Kommission, gleichzeitig feststellt, dass man flächendeckend über eine mangelnde Finanzbildung in Europa sprechen muss, ist die Beschränkung auf Execution-only der sichere Weg, eine Kapitalmarktbeteiligung breiter Bevölkerungsschichten dauerhaft zu verhindern.
Preisregulierung ist keine Lösung
Ebenso werden wir während des Trilogs bei unseren Gesprächspartnern darauf drängen, dass die von der EU-Kommission vorgesehene Einführung einer staatlichen Preiskontrolle unterbleibt. Der Kommissionsvorschlag sieht umfassende Berichtspflichten der Produktanbieter vor, deren konkrete Ausgestaltung jedoch nicht in den einzelnen Richtlinien zu den Produkten (IDD, UCITS, AIFM) festgelegt wird, sondern von der EU-Kommission zusammen mit der Wertpapieraufsicht ESMA und der Versicherungsaufsicht EIPOA als verbindliche Verordnungen für ganz Europa festgelegt werden sollen. Die Aufsichtsbehörden sollen detaillierte Produkt-Benchmarks entwickeln, die im Wesentlichen die Kostenseite der Produkte betrifft.
Staatliche Preisregulierung hat in einer Marktwirtschaft jedoch grundsätzlich keinen Platz und wäre nur dann geboten, wenn ein Marktversagen festzustellen ist. Tatsächlich haben wir in der Europäischen Union weder im Finanzanlage- noch im Versicherungsmarkt marktbeherrschende Unternehmen, welche in der Lage sind, einseitig Preise gegenüber dem Kleinanleger zu diktieren. Zudem ist festzustellen, dass der Wettbewerb unter den Anbietern funktioniert. Bestes Beispiel dafür ist, dass es inzwischen ETF-Angebote gibt, bei denen die Verwaltungskosten weniger als 0,1 Prozent ausmachen. Einer staatliche Kostenkontrolle bedarf es daher nicht.
Sie birgt darüber hinaus das Risiko, dass quasi über die Hintertür der Vorgabe von Abschluss- und Verwaltungskosten erneut ein Eingriff in die Vergütungssystematiken der Berater und Vermittler erfolgt.
Mehr Pflichten, weniger Vielfalt
Bei den EU-Parlamentariern ist daher zu Recht negativ aufgefallen, dass sich die EU-Kommission in ihren RIS-Entwurf eine Vielzahl von Ermächtigungen zum Erlass von Verordnungen eingebettet hat, deren Auswirkung auf die einzelnen nationalen Märkte tatsächlich nicht eingeschätzt werden kann. Wir werden daher darauf achten müssen, dass dieser Ermächtigungsdschungel deutlich zurückgeschnitten wird.
Kritisch ist auch der Ansatz der EU-Kommission zu bewerten, die Berater mit weiteren Pflichten im Bereich der Produktüberprüfung und -Analyse zu belasten. Diese Anforderungen gehen so weit, dass der Berater verpflichtet sein soll, seinem Kunden das „kosteneffizienteste“ Finanzinstrument auszuwählen. Abgesehen davon, dass kosteneffizient von den Aufsichten immer nur mit vermeintlich billig übersetzt wird, anstatt wirklich ein Vergleich zwischen Leistung und Kosten vorzunehmen, überfrachtet dies den Beratungsprozess. Die Produktverantwortlichkeit muss bei den Anbietern verbleiben. Würde man hier weitere Pflichten auf Seiten der Berater einführen, ist im Ergebnis lediglich ein Konzentrationsprozess zu erwarten, da Berater dann den Ausweg nehmen, nur noch eine eingeschränkte Produktpalette anzubieten, um ihren Vergleichspflichten auf möglichst wenige Anlageprodukte zu beschränken und so ihre Pflichtenerweiterung überhaupt handhabbar zu machen.
Mit dieser Maßnahme greift die EU-Kommission daher unmittelbar in die Vielfalt des Marktes ein, was es zu verhindern gilt.
Geeignetheitsprüfung ad absurdum
Ebenso müssen Parlament und Rat darauf achten, dass die EU-Kommission in ihrem Vereinfachungsvorschlag vorsieht, die Verpflichtung zu streichen, dass die Berater zukünftig ihrem Kunden im Rahmen der Geeignetheitsprüfung nicht nur ein geeignetes Produkt anbieten sollen, sondern darüber hinaus ein weiteres ebenfalls vermeintlich geeignetes Produkt mit einem abgesenkten Leistungsspektrum und geringeren Kosten.
Diese Regelung, die die EU-Kommission als Verbraucherschutzrevolution anpries, lässt erkennen, dass hier reine Theoretiker am Werk waren, die den Anlageberatungsprozess tatsächlich nicht kennen. Die Verpflichtung, Alternativangebote zu unterbreiten, geht selbstverständlich damit einher, dem Kunden für diese Alternativangebote die gleichen Beratungs- und Informationsdokumente auszuhändigen wie für das originäre vorgeschlagene Produkt, um dann auch noch die vermeintlichen Unterschiede quasi in einer Synapse zu erläutern.
Am Ende einer solchen Beratung bleibt ein völlig überforderter Anleger kopfschüttelnd vor einem 250 Seiten starken Dokumentenstapel zurück, mit dem Ergebnis, dass Beratungsunternehmen im Einvernehmen mit dem Kunden von einem Geeignetheitstest absehen werden und zukünftig lediglich eine schlichte Anlagevermittlung anbieten werden, um diese Informationsschlacht zu umgehen.
Es zeigt sich daher, dass es zwingend notwendig ist, bei dem aktuellen Trilog genau hinzuschauen, da die Auswirkungen auf die Beratungsprozess für Anlageberater und Versicherungsvermittler von erheblicher Bedeutung sein können. Sofern hier nicht entschlossen der Rückweg aus den ursprünglich geplanten Bürokratie-Wirren eingeschlagen wird, wachen die Berater in einer Welt auf, die sich als fortgesetzter Alptraum entpuppt.
Autor Martin Klein ist geschäftsführender Vorstand des VOTUM Verband Unabhängiger Finanzdienstleistungs-Unternehmen in Europa e. V.
Der Artikel stammt aus Cash. 5/2025 und gibt den Stand 15. April 2025 wieder.